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Eröffnungsvortrag

Eröffnungsvortrag

Veranstaltungsort: Bayerische Musikakademie Marktoberdorf

Eröffnungsvortrag mit Prof. Dr. Dr. hc. Karl-Josef Kuschel »Musik als Hoffnung für die Menschheit – Hörerfahrungen im Spiegel der Literatur und was daraus folgt«

Foto © Fanny Fazii

 

Musik als Hoffnung für die Menschheit

Hörerfahrungen im Spiegel der Literatur und was daraus folgt

Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel

 

Musik I: Bach, Toccata und Fuge D-Moll (BWV 565) 0:29-3.09

Wie oft ist es einem so ergangen. Man sitzt still irgendwo in einer Kirche und lässt  sich von Orgelmusik umfließen, oft genug von Johann Sebastian Bach. Toccaten und Fugen in allen Varianten.  Vielen von Ihnen dürfte es auch so ergangen sein. Man schließt die Augen und lässt  sich umspülen vom Fluss der Töne und Klänge. Lässt  sich mitnehmen.  Klangräume bauen sich auf. Mal tiefe dunkle Bässe, mal silbrig helle Obertöne. Sie scheinen aus verborgenen Tiefen zu kommen und sich in kosmische Dimensionen zu steigern. Rhythmen, Akkorde, Sequenzen, mal gewaltig aufbrausend, mal leise zurückgenommen. Kleinste Strukturen und gewaltige Dimensionen im Wechselspiel.  Das ganze Stimmungsspektrum? Es scheint wie ausgemessen mit  seinen Tiefen und seinen Höhen. Tiefen der Angst und Tiefen des Vertrauens.

I.

Ich kann mich satt nicht hören. Bin jedes Mal wie gebannt. Da können Klänge wie aus einem Urgrund heraus sich aufwühlen, um dann wieder in rasantem Wechsel als spitz-helle Melodien wie in unendliche Fernen zu verschweben. Bach, der Ausmesser der Klangwelten, für den es nichts zu geben scheint, was sich nicht in Tönen ausdrücken lässt: das Dunkel-Schwarze und das  Durchsichtig-Helle, das Kraftvoll-Mächtige und das Zerbrechlich-Zarte, das Drängend-Rasende und das Zugenommen-Langsame.  Toccata und Fuge in D-Moll zum Beispiel: Töne zuerst  wie zuckende Blitze und anschließend wie  Wasserstürze.  Genesis und Apokalypse, Keime und Kosmos, immer alles verknüpft. Immer ist  alles im selben Stück zu hören in dieser einzigartigen Welt aus Klang.

Wie gerne würde ich sprachlich genauer ausdrücken können, was ich höre.  Doch wie ohnmächtig ist die Sprache gegenüber der Komplexität der Tonkunst, die aber zugleich auf die Wortkunst angewiesen ist.  Flüchtig, wie die Musik nun einmal ist im Moment des Hörens. Aber keine Komposition, keine Tonfolge ist in Sprache übersetzbar. Selbst die Größten unter den Wortkünstlern sind daran gescheitert.  Gewiss: Was Tolstoi zum Violinspiel in Beethovens „Kreutzersonate“ (op 47) in seiner gleichnamigen Erzählung zu sagen hat, ist tief und mitreißend zugleich. Und die Ausführungen, die Thomas Mann im „Doktor Faustus“ den Musiklehrer Wendel Kretschmer über Beethovens C-Moll Klaviersonate op 111 sagen lässt, sind brillant. Sie drehen sich u.a. um die Frage:  Warum hat der späte Beethoven für diese Sonate keinen dritten Satz geschrieben. Aber was ist die tiefste und brillanteste Prosa gegen das Hörerlebnis der Musik selber? Sprache in ihrer Ohnmacht, Grenzen der Sprachlichkeit. Wie stark ist doch die Sprache der Töne gegenüber der Sprache der Worte. Wer hätte je beschreiben können, was man an Nuancen hört, wenn Schuberts „Impromptus“ erklingen oder die „Nocturnes“ von Chopin? Wie armselig ist die Wort-Kunst gegenüber der Tonkunst, die aber zugleich auf die Wortkunst angewiesen bleibt, ich  sagte es, will man verstehen, was man hört und anderen mitteilen, was man erfährt. 

 Es sind kostbare Momente, wenn man Musik hört, klassische oder andere zeitgenössische.  Sie lassen einen  für Minuten vergessen, woher man kommt, wohin man geht, was einen gerade in Anspruch nimmt, bedrückt oder belastet. Unterbrechungserfahrungen werden möglich, seltene Momente der Aufhebung von Erdenschwere. Musik reicht in die Tiefen der Angst, umgreift sie und hebt einen empor zu neuem Welt- und Lebensvertrauen. Alles im Raum scheint zu schweben, scheint leicht, scheint durchsichtig geworden. Man kann sich  geöffnet fühlen für etwas Großes, Mitreißendes und zugleich für  stille Einkehr, für Nachdenklichkeit und Dankbarkeit. Und sei es  nur die Dankbarkeit für gesunde Ohren,  die einen diese Tonlandschaften wahrnehmen lassen, für diese Momente unerwarteter Selbstvergessenheit.

 Ich habe nicht immer so gehört. Vieles früher war nur flüchtiger Konsum. Oberflächlich  verspieltes  Hinhören, mehr Hintergrund, mehr Ablenkung und Entspannung. Kunstgenuss mehr als Kunst-Verständnis.  Eine Lese - Erfahrung ließen mich Musik anders hören.

II.

Zuerst durch eine Szene in einem Prosabändchen, das seinen Autor mit einem Schlag einer literarischen Öffentlichkeit in Deutschland bekannt macht, als es 1976 im Westen erscheint. Die DDR- Parteifunktionäre setzen diesen Poeten daraufhin derart unter Druck,  dass er 1977 diesen Staat verlässt. Er heisst Reiner Kunze und der Titel seines Buches „Die wunderbaren Jahre“  ist dementsprechend von bitterer Ironie, denn es geht in den jeweils kurzen Texten vor allem um Schikanen im Alltag von Menschen, um Bevormundungen durch Behörden, um Überwachung und Kontrolle, kurz: um Funktionärskälte. Beschrieben wird ein Klima aus Repression und Angst, nachdem alle Unangepasstheit von der totalitär herrschenden Partei als Bedrohung empfunden und auf Abweichen von der staatlich verordneten Linie mit Druck, ja mit Verboten reagiert wird. Insbesondere alles, was in den Bereich von Religion und Kirche fällt, zieht das Misstrauen der Herrschenden auf sich. So auch das Orgelkonzert in einer örtlichen Kirche, das immer Mittwochabends stattfindet. Obwohl die Schulbehörde den Besuch unterbinden will, Lehrer die Schüler noch am Kirchenportal abzufangen versuchen, Eltern Druck ausüben, reichen bald die Sitzplätze in der Kirche nicht mehr aus. Warum? Warum kommen gerade auch junge Menschen zu dieser Musik in diesen Raum?

„Hier müssen sie nicht sagen, was sie denken“, so beginnt das kleine Kapitel „Orgelkonzert (Toccata und Fuge)“. „Hier umfängt sie das Nichtalltägliche, und sie müssen mit keinem Kompromiss dafür zahlen; nicht einmal mit dem Ablegen der Jeans. Hier ist der Ruhepunkt der Woche. Sie sind sich einig im Hiersein. Hier  herrscht die Orgel.“ (S. 76) Und dann folgt eine Vision von wahrhaft erschütterndem Ausmaß: Orgelgewalt  - freigesetzt! Was wäre, wenn: „Was wäre, wenn auf einmal alle Orgeln, aus allen Himmelsrichtungen, unter welchem Dach auch immer, auch die von  Bach gespielten, plötzlich zu tönen begönnen und die Lügen, von denen die Luft schon derart gesättigt ist, dass der um Ehrlichkeit Bemühte kaum noch atmen kann, hinwegfegten, hinwegdröhnten all den Terror im Geiste .... Wenigstens ein einziges Mal, wenigstens für einen Mittwochabend.“ (S. 80)

Ein Konzert als „Ruhepunkt der Woche“.  Menschen werden einig im Hiersein. Die Musik kann reinigen, indem sie  „Lügen hinwegfegt“, den „Terror im Geiste“ hinweg dröhnt. Das Konzert wird in einer Kirche im Kontext eines politisch totalitären Systems zu einem Raum der inneren Freiheit. Warum? Weil es die Menschen, solange sie zuhören, nicht zwingt, verordnete Gedanken zu denken, verordnete Rituale abzuspulen und zu Claqueuren  eines Systems zu werden, das sie innerlich ablehnen. Das Orgelkonzert ist die noch nicht totalisierte Leerstelle in dieser verzweckten, durchkontrollierten, überwachten Gesellschaft. Entsprechend wird Musik-Hören zum Ausdruck- und Rückzugsraum unverwalteter, unverzweckter Menschlichkeit.

Glücklicherweise haben viele unter uns nicht unter DDR-Verhältnissen leben müssen, aber das verfügte, genormte, angepasste und so oft fremdbestimmte Leben kennen viele unabhängig davon auch. Ein  Leben unter einer anderen Art von Druck als dem politischen: das Funktionieren- Müssen, die Anerkennung über nichts als die Leistung. Du bist nur etwas, weil Du etwas geleistet hast. Im regulierten Leben aber ist das Hören - Dürfen der Musik die Kontrasterfahrung schlechthin: eine Erfahrung des Unverfügten, Unverzweckten, Unkontrollierten. Hier sagt niemand „Du musst“. Man ist um seiner selbst willen hier. Und die Musik ist um ihrer selbst willen schön. Kostbare Momente der Selbstentlastung und Selbstbesinnung setzt sie frei. Sie erlaubt das Hier-Sein, absichtslos, ungeplant, unverzweckt. Musik zwingt zu nichts, drängt sich nicht auf. Sie verlangt keine Voraussetzungen und keine Zustimmung. Sie lädt ein und öffnet die Sinne ohne alles Ziel, ohne Zweck, ohne Plan, eben: ohne ein „Du musst“. Ein „Ruhepunkt der Woche“ könnte sie sein in einem oft hektischen, verfügten, verplanten Leben.

So erlebe ich gerade durch die sinnliche Wahrnehmung der Ton-Kunst  Möglichkeiten des Nachdenkens über das Banale und Alltägliche hinaus. Unterbrechungserfahrungen werden möglich.  Für mich sind das Erfahrungen des Transzendierens, das heißt: der Überschreitung des eigenen oft engen und begrenzten Horizonts. Und diese Erfahrungen der Selbstüberschreitung lassen mich in bestimmten verdichteten Momenten auch etwas ahnen vom Geheimnis der Transzendenz,  von dem ich mich umgeben fühle und dessen „Code“ ich zu entschlüsseln suche. Und für die das häufig so verschlissene Wort „Gott“ in aller Demut passend ist.

Weitere literarische Texte wären zu nennen. Noch nie wurde die Präsenz von Musikerfahrungen in der Literatur systematisch erforscht.  Tonkunst und Wortkunst sind bekanntlich nicht  zur Deckung zu bringen, aber aufeinander angewiesen, ich sagte es.  Das hat Hermann Hesse gewusst, als er in seinem Roman „Demian“ von 1919 seinen Helden in einer kleinen Kirche   seltsamen verzaubernde Musik hören lässt  und auf einen rätselhaften Organisten trifft. Der vermag dem Instrument derart kraftvolle Töne zu entwinden, dass der Besucher glaubt, erstmals den Zusammenklang aller  Gegensätze der Welt zu erleben, die Aufhebung aller Spaltung und damit die Fähigkeit zur Integration des Dunklen und des Hellen, des Abgründigen und Geborgenen, der Lebensangst und des Lebensvertrauens.  Diese Musik ist  Schrei und Stille zugleich, Trotz und Trost, Protest und Ergebung, aufwühlender Sturm und leise Besänftigung, zuckende Unruhe und stille Meditation.

Und immer alles zugleich: „Sehnsucht“, so wörtlich bei Hesse, „innerstes Ergreifen der Welt und innigstes Sichwiederscheiden von ihr, brennendes Lauschen auf die eigene dunkle Seele, Rausch der Hingabe und tiefe Neugierde auf das Wunderbare“ (3, 311). Polarität statt Spaltung also, Komplementarität statt Konflikt. Eine „unbedingte Musik“ hört Hesses Held,  bei der man - so wörtlich - „spürt, dass da ein Mensch an Himmel und Hölle rüttelt.“ „Die Musik ist mir sehr lieb“, sagt er zu dem Organisten, „ich glaube, weil sie so wenig moralisch ist. Alles andere ist moralisch, und ich suche etwas, was nicht so ist. Ich habe unter dem Moralischen immer bloss gelitten“ (3,  312) Und der Orgelspieler stellt Hesses Held beim Abschied „ein ganz exquisites Stück alter Orgelmusik“ in Aussicht: Buxtehudes Passacaglia in  D-Moll (BuxWV 161).

Das alles hat auch  der österreichische Schriftsteller Robert Schneider gewusst, als er seinen Roman „Schlafes Bruder“ schrieb. 1993 erstmals erschienen, wird der Erstling des Autors weltbekannt, nicht zuletzt auch durch eine Verfilmung von Joseph Vilsmaier 1995.  Im Zentrum ein aus einfachsten bäuerlichen  Verhältnissen der österreichischen Alpen Anfang des 19. Jahrhunderts stammender und dort aufgewachsener Held, Elias, der sich, scheinbar zurückgeblieben,   als ein genialer  Musiker und dann auch als Orgelspieler von exzeptionellen Fähigkeiten entpuppt. Bei einem Wettbewerb, zu dem man ihn endlich zugelassen hatte, findet er zu dem Bachschen Choral „Komm o Tod, du Schafes Bruder“  eine Tonsprache wie kein Musiker vor und nach ihm. Diese so gespielte Musik vermochte, wie es wörtlich heisst, „den Menschen bis auf das Innerste seiner Seele zu erschüttern“.

 

Musik II: Das Orgelkonzert aus der Verfilmung des Romans von Robert Schneider „Schlafes Bruder“ 4:29 (raus bei 4:22)

Solche Töne hatte niemand von den Zuhörern je vernommen und der Erzähler fügt hinzu: „Er spielte nun schon länger, denn eine halbe Stunde und ein Ende war nicht abzusehen. Aber aus dem breiten, dunklen Chaos regten sich allmählich versöhnlichere Stimmen. Den Melodien folgten andere Melodien, duftig und weich wie das im Frühlingswind wogende Gras. Und diesen Melodien folgten wiederum neue Melodien … folgte die Melodie des Chorals. Der Choral aber war der Tod. So entstand ein Reigen, ein ephemeres Auf und Nieder immer neuer musikalischer Gedanken. Die Melodie wechselte in einen ungeraden Takt, fiel zurück und wechselte abermals. An der Leichtfüssigkeit der immer neu hinzutretenden Stimmen konnte man erahnen, dass Elias nicht mehr von dieser Welt erzählte. Der Mensch war aus dem Chaos aufgestanden, das Gewicht der Erde zerrte ihn nicht länger nieder.“ (S. 175f)

Seit ich diese Szenen aus der Literaur  kenne, höre ich Musik anders, schärfer, genauer, wacher. Wie Kunzes, Hesses  und Schneiders Helden erlebe  auch ich, dass mit dieser Tonsprache, einem Sehnsuchts-Gebet gleich, ein Mensch in der Tat „an Himmel und Hölle  zu rütteln“ vermag. Und  ich erlebe, dass diese Musik mir ungeschminkt und  ohne moralische Zensur vom Leben mit seinen Ambivalenzen und Zwiespältigkeiten erzählt: vom Niedrigsten und vom Höchsten, von Dunkelsten und vom Hellsten, vom Abgrund der Welt und der Sehnsucht nach Harmonie.  Aber niemals als Betäubung oder Aufpeitschung von Emotionen. Alles so, dass es noch Form bleibt, Gesetz, gebannt und gestaltet zugleich. Entsprechend kann man im Hören von Musik  frei von Denkschemata werden,  von fixen Urteilen. Sie lehrt zu integrieren, was man gerne abspaltet und verdrängt. Aufhebung der Erdenschwere als Gewinn innerer Freiheit, als Ahnung einer Existenz unendlicher Räume, die meine Kleingeistigkeit und Kleingläubigkeit unterläuft. Als krummes Holz betritt man den Weltraum der Klänge und geht mit aufrechtem Gang davon.

III.

Viele Menschen, wo immer sie leben, von welcher Kultur oder Religion sie geprägt sind, werden ähnliche Erfahrungen gemacht haben, wie ich sie, gewissermassen stellvertretend Wortkünstler heranziehend, beschrieben habe. Sie spüren, dass man die Liebe zur Musik nicht nur individuell oder durch die Gemeinschaft der Chöre pflegen, sondern auch in den Dienst des Friedens zwischen den Nationen und der Verständigung zwischen den Kulturen und Religionen stellen kann. Das dokumentieren wir hier einmal mehr auf diesem Festival: diese gelebte  Verbindung von Musik und Völkerverständigung – im Wissen, dass Musik eine kulturtranszendierende und gewalteindämmende Kraft besitzt, und das  die friedenszerstörenden Kräfte immer  wieder  auf die domestizierende Macht der Töne treffen.  „Genau darum geht es in der Kunst“, hat einer grössten unter den Violin-Solisten des 20. Jahrhunderts, Jehudi Menuhin, einmal geschrieben, „und dazu ist sie da“: „Wenn wir Leidenschaft nicht über die Kunst zum Ausdruck bringen, äussert sie sich als Zerstörung“ (Unterwegs, 1996, 35).  Man hat ihn nicht von Ungefähr einen „echten Weltbürger“ und „fahrenden Kosmopoliten“ genannt, diesen Jehudi Menuhin, der „keinem Volk angehöre und keiner Kategorie oder Gruppe zuzuordnen sei. Nur eine „brüderliche Gemeinde“ kenne er: „diejenigen“, „die, wo immer in der weiten Welt, hören können, ohne hörig zu sein“. Ihre Heimat sei auch die seine: „das Reich der Töne, das keine Grenzen kennt“, hiess es in der Laudatio von Pierre Boulez, als Menuhin 1979 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekommt. Dieses Festival macht ernst mit diesem schönes Gedanken: Das Reich der Töne kennt keine Grenzen. Wir wollen hören, ohne hörig zu sein.Dazu tragen die unterschiedlichsten Formen bei, ob vokal oder instrumental, ob solistisch oder chorig, ob Madrigale oder Gospel.

Menuhin selber, jüdischer Herkunft, der seinem Band  mit „Reden und Schriften“ den Titel „Kunst als Hoffnung für die Menschheit“ (1986) gegeben hat, steht wie kaum ein anderer als Symbolfigur für viele, die ihre künstlerische Genialität und Berühmtheit für Nachwuchsförderung und interkulturellen Austausch genutzt haben. Sie sehen das Spezifische der Musik gerade in der Fähigkeit,  eine „globale Gemeinschaft der Nationen“ zu konstituieren und immer wieder neu zu behaupten allen Rückschlägen in der internationalen Politik zu Trotz. 

 Reine Musik ist bekanntlich eine Sprache ohne Sprache, Ton-Kunst ohne Wortkunst, in der Tonsetzung genau kalkuliert, aber letztlich unsagbar, das Hirn herausfordernd und zugleich das Herz berührend, rational und emotional zugleich, von Bedeutungen schwer, aber in Worten nicht zu fassen. Das macht sie unverwechselbar und genau das ist ihre Chance. Denn die Tonsprache der Musik ist von allen Menschen erlern- und erlebbar, welche Muttersprache auch immer sie sprechen, aus welcher Kultur auch immer sie kommen, zu welchem Gott auch immer sie beten. Das hat sie mit der Mathematik gemeinsam. Worte trennen oft, Musik verbindet. Wort-Sprache baut eher Barrieren, die Ton-Sprache Brücken.

 Dieses Festival lebt auch von der Überzeugung, dass die Kulturen und Religionen in ihrer spirituellen Substanz zusammengehören und die Musik mit ihren so verschieden Stilen und Formen ein Bewusstsein gerade dafür schaffen kann. Ensembles  nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus der Türkei, Indien, der Mongolei, Kenia und Serbien spielen hier auf.  Meditation und Musik gehören zusammen und dafür hat man vor allem in den Traditionen von Hinduismus und Sufismus eine grössere Sensibilität als anders – mit jeweils spezifischen Instrumenten. Heute fliessen Indisches, Sufitisches und  Europäisches ineinander. Man hat voneinander gelernt. Leben wir doch in Zeiten von Welt-Musik.

 IV.

Musikalität ist eine anthropologische Konstante. Das  ist zeitlich und räumlich zu verstehen. Die Ursprünge der Musik liegen in prähistorischen Zeiten und reichen bis zu den ersten grossen Kulturen der Sumerer, der Ägypter, der Chinesen, um dann zur klassischen Epoche des alten Griechenland zu kommen und darüber hinaus bis zu den Musikkulturen Afrikas, einst und jetzt. Buchstäblich bis an die Uranfänge der Menschheit reicht eine musikgeschichtliche Tiefenbohrung  Beinahe aus allem, was in der Natur zu finden sei, – Knochen, Horn, Weidenrinde, Tierdärme – haben Menschen  Musikinstrumente gemacht, „Die Musik“, hat ein Kritiker zurecht gesagt, sei „die älteste menschliche Ausdrucksform“,  „älter als die Sprache oder die Kunst“. Sie beginne „mit der Stimme und unserem überwältigendem Bedürfnis, mit anderen in Verbindung zu treten“ (S. 1). Und er fährt fort:  „Musik mag vieles sein: expressiv, verbindend, bewegend und inspiriert, selten aber ist sie zufällig, nicht einmal dann, wenn sie das ewige Rauschen des Meeres oder die Unmittelbarkeit des Vogelgesangs widerspiegelt. In der Musik sind der Schrei des neugeborenen Kindes, das hämmernde Stakkato eines Spechts, das Krachen des Donners und das Raunen des Windes im Weizenfeld ebenso wesentliche Klänge wie das Gurren von Tauben oder das Rascheln der Samenschoten, das Klingen von Metall oder der sanfte Tritt des Fusses im Unterholz. Bilden nicht gerade diese sehr natürlichen Geräusche das Rohmaterial, aus dem sich der Mensch seine Musik erschafft?“ (Vorwort, S. IX).

 Hier, bei diesen Bausteinen zu einer Philosophie universaler Musikalität, grundgelegt in der Schöpfung und in jedem Menschen, erreichen wir den tiefsten Grund für den Auftrag zu einem die Menschen und die Schöpfung verbindenden Dialog der Kulturen und Religionen. Durch die Kraft der Musik vermag sich der reine homo aestheticus  in einen homo spiritualis zu verwandeln, der nicht nur täglich mit Hilfe des indischen Yoga seinen Körper in Zucht nimmt, sondern auch seine spirituellen Quellen ohne alle Religionsvermischung universalisiert. Zwar erleben wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in Westeuropa, dass Religion in traditionellen, institutionalisierten Formen auf eine geschichtlich beispiellose Schwundstufe öffentlicher Präsentation geschrumpft ist und ein nie gekanntes Mass an Vergleichgültigung gegenüber den traditionellen Kirchen eingetreten ist.  Aber weltweit gesehen, ob in Indien, Südostasien, Afrika oder dem Nahen Osten  ist Religion eine  Massen von Menschen nach wie vor treibende, motivierende und bindende Kraft. Der  Einfluss vor allem von Hinduismus oder des Islam in vielen Ländern ist ungebrochen, doppelgesichtig wie er ist.  Auch  Massen von Menschen in China bleiben vom Konfuzianismus, Taoismus oder Buddhismus geprägt. Dabei wissen wir  zugleich, dass die Zeiten des Monopolanspruchs einer Religion für ungezählte suchende Menschen vorbei ist. Die Zeit des religiösen Exklusivismus ist abgelaufen, so sehr er in einzelnen Regionen etwa des Hinduismus oder des Islam heute neue Zuckungen erlebt.  

 V.

Damit wird musikalische Praxis auf diesem Festival Musica Sacra International anschlussfähig an heutige Diskurse in Politik-, Rechts- und Religionswissenschaft über globale Zivilgesellschaft, die Universalität von Menschenrechten,  der Herausbildung eines Weltrechts und der Implementierung globaler ethischer Standards. Denn ein Bewusstsein für die eine, vielfältige Menschheitskultur wird sich nur durchsetzen, durch ein gleichzeitig entwickeltes Bewusstsein für die Gültigkeit eines gemeinsamen Ethos der Menschheit,  getragen von religiösen und nichtreligiösen Menschen. Für das also, was heute unter dem Programmwort „Weltethos“ diskutiert und implementiert wird.

 Anschlussfähig auch an den national und international sich entwickelnden interreligiösen Dialogs. Die entsetzlichen Gewalt- und Zerstörungsschandtaten, die wir durch den Ukraine-Krieg und den Krieg der Hamas gegen Israel und Israels gegen die Hamas in Gaza erleben mussten, können zwar die Ergebnisse der vielfältigen Dialogprozess eine Zeitlang  verdrängen, aber nicht auslöschen.  Einige Beispiele gehören hierher. Gleichsam zum Mitschreiben.

 „Unsere Welt braucht dringender denn je Orte des Friedens. Orte, an denen wir lernen, in unserem „einen Welthaus“ gemeinsam zu leben. Juden, Christen und Muslime haben sich deshalb in Berlin auf den Weg gemacht, für eine Verständigung unter den Religionen ein völlig neuartiges, zukunftsweisendes Sakralgebäude gemeinsam zu planen, zu bauen und mit Leben zu füllen“.  Ich habe aus der Selbstbeschreibung des Berliner Projektes „House of One“ zitiert, das im Juni 2021 seine Grundsteinlegung erfahren hat.Und weiter heisst es: „In Berlin wächst seit 2011 etwas weltweit Einmaliges: Juden, Christen und Muslime bauen gemeinsam ein Haus, unter dessen Dach sich eine Synagoge, eine Kirche und eine Moschee befinden. Ein Haus des Gebets und der interdisziplinären Lehre. Ein Haus der Begegnung, für ein Kennenlernen und den Austausch von Menschen unterschiedlicher Religionen. Ein Haus auch für die, die den Religionen fernstehen.“

 Und um von der Basis an die Spitze zu verweisen: Ein weiteres Zeichen ist das Dokument über die „Brüderlichkeit der Menschen“, das Papst Franziskus am 4. Februar 2019 zusammen mit dem Grossimam der Al-Azhar Universität zu Kairo, der höchsten Autorität im sunnitischen Islam, Ahmed Al-Tayyeb, unterzeichnet und während seiner Reise in die Emirate am Golf veröffentlicht hat. Es ist zu hoffen, dass dieses kostbare islamisch-christliche Dokument der höchsten Autoritäten nicht wie andere für einen Tag im Schaufenster der Weltpresse verbleibt, sondern bis auf die Universitäten, Schulen und Kirchen- und Moscheegemeinden hinunter verbreitet und bei der Unterweisung der Gläubigen eingesetzt wird. Statt „schuladisieren“ öffentlich propagieren! Das wird auch durch die Abschlusserklärung des 7. Kongresses der Weltreligionen bekräftigt, die in Astana, der Hauptstadt von Kasachstan,  im September 2023 stattgefunden hat. Delegationen aus 50 Ländern haben teilgenommen.  30 Punkte umfassend die Erklärung, die bis in Details geht. Auch Papst Franziskus ist eigens dorthin gereist.

 Am Dienstag 13. September 2022 hat der Papst in einer seiner Ansprachen in Kasachstan die Chancen des interreligiösen Austausches  mit einem wunderbaren Bild aus der Welt der Musik erläutert: Mit der Dombra als Symbol, dem klassischen Zupfinstrument Kaschachtans und der ganzen Region: Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan. Es sei „ein im Volk weit verbreitetes Instrument“ und künde „als solches von der Schönheit, den Geist und die Lebendigkeit eines Volkes“.  Die Erinnerung an diese Passage der Rede mit dieser symbolischen Zuspitzung gehört hierher – in ein Festival  mit dem Titel: „Musica Sacra International“:

„Bei der Vorbereitung der Reise erfuhr ich“, sagte Franziskus, „dass einige Versionen der Dombra bereits im Mittelalter gespielt wurden und dass sie über die Jahrhunderte hinweg der musikalischen Begleitung von Sagen und poetischen Werken diente und so die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet. Als Symbol der Kontinuität in der Vielfalt verleiht sie dem Gedächtnis des Landes einen Rhythmus und erinnert uns auf diese Weise daran, wie wichtig es ist, angesichts des raschen wirtschaftlichen und sozialen Wandels die Verbindung zum Leben derer, die uns vorausgegangen sind, nicht zu vernachlässigen ...

Die Dombra wird durch Zupfen ihrer beiden Saiten gespielt. Auch Kasachstan zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, „zwei parallele Saiten“ in Einklang zu bringen: sehr kalte Temperaturen im Winter und sehr hohe im Sommer; Tradition und Fortschritt, wie das gut sichtbar wird am Nebeneinander von historischen und modernen Städten, wie dieser Hauptstadt. Vor allem aber klingen in diesem Land die Melodien zweier Seelen, der asiatischen und der europäischen, woraus sich die beständige Aufgabe ergibt, ein Verbindungsglied zwischen zwei Erdteilen zu sein,  eine ‚Brücke zwischen Europa und Asien‘, ein ‚Bindeglied zwischen Ost und West‘.  Die Saiten der Dombra erklingen gewöhnlich zusammen mit anderen Streichinstrumenten, die für diese Orte typisch sind. Die Harmonie reift und wächst im Ensemble, in der Vielstimmigkeit, die das soziale Leben harmonisch macht. ‚Die Quelle des Erfolgs ist die Einigkeit‘, sagt ein schönes einheimisches Sprichwort. Wenn dies auch überall gilt, hier ganz besonders. Die rund hundertfünfzig ethnischen Gruppen und die mehr als achtzig Sprachen, die es im Land gibt, mit ihren unterschiedlichen Geschichten, kulturellen und religiösen Traditionen fügen sich zu einer außergewöhnlichen Symphonie und machen Kasachstan zu einem einzigartigen multiethnischen, multikulturellen und multireligiösen Labor und offenbaren seine besondere Berufung, Land der Begegnung zu sein.“

Und am nächsten Tag, Mittwoch 14. September 2022, rief Franziskus bei der Eröffnung der Vollversammlung des 7. Kongresses der Führer der Weltreligionen und traditionellen Religionen den Versammelten zu:

„Möge Kasachstan wieder ein Land der Begegnung zwischen denen werden, die weit entfernt voneinander sind. Möge es eine neue Seidenstraße eröffnen, bei der es nicht um den Wert des Handels, sondern um die menschlichen Beziehungen geht: um den Respekt, um die Ehrlichkeit des Dialogs, um den unabdingbaren Wert eines jeden, um die Zusammenarbeit; ein geschwisterlicher Weg, der dazu dient, gemeinsam auf den Frieden zuzugehen.“

Und ich frage zum Schluss: Was brauchen wir dringender denn je im Raum der Religionen für eine „Neue Seidenstrasse“?  Wir brauchen einen Paradigmenwechsel: vom konfrontativen oder ignorierenden hin zu einem vernetzten Denken. Vom Gegeneinander und Ohneeinander zu einem Miteinander ohne alle Verwischung und Vermischung. Von einer Unkultur ständiger Abgrenzung oder gleichgültigen Nebeneinanders zu einer Kultur der Achtsamkeit für die Präsenz des je Andersglaubenden neben mir und vor Gott. Und aus einer Kultur der Achtsamkeit folgt eine Praxis wechselseitiger Partizipation und Gastfreundschaft. Eine Kultur des Vertrauens. Dann können wir unser Ur finden: Immer wieder aus Vertrauen auf den je grösseren Gott Vertrauen unter den je Andersglaubenden stiften. Und der ANDERSglaubende ist immer auch der AndersGLAUBENDE. Oder mit einem Wort Martin Bubers, grossen Vordenkers des Dialogs aus jüdischen Quellen: „Jeder Mensch hat einen Weg zu Gott, aber jeder einen anderen.“

Wir hören zum Abschluss ein Stück, gespielt mit der Dombra.

 

Zur Person:

Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel lehrte von 1995-2013 Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs an der Fakultät für Kath. Theologie der Universität Tübingen. Zugleich war Ko-Direktor des Instituts für ökumenische und interreligiöse Forschung der Universität Tübingen. 2015 wurde er in den Stiftungsrat zur Vergabe des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und zum Präsident der Internationalen Hermann Hesse Gesellschaft gewählt.

 

 

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